Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.08.2008
Harakiri an der Saale (Halle/Saale)

Halle an der Saale ist eine tragische Stadt. Einerseits ist Halle ein baukulturelles Juwel. Kaufmannshäuser aus der Renaissancezeit, barocke Bürgerhäuser, dekorative Gründerzeithäuser und moderne Stadtteile machen die Stadt zu einem gebauten Geschichtsbuch. Doch dieser Reichtum ist in größter Gefahr. Schon ein Gang durch die Stadt vermittelt eine Ahnung von den Nöten, mit denen Halle zu kämpfen hat. In manchen Stadtteilen gibt es ganze Straßenzüge, die nur noch von trostlosen Geisterhäusern gesäumt werden, andernorts findet man fragmentierte Gebiete, in denen sich sanierte Häuser, Ruinen und Abrissbrachen aneinanderreihen.

Verantwortlich für die Misere sind nicht nur die Wirtschaftskrise und die Abwanderung, sondern auch eine falsche Stadtumbaupolitik. Die Stadtverwaltung hat zwar in der Stadtentwicklungskonzeption Wohnen von 2001 den Erhalt möglichst vieler Altbauten versprochen. Doch die Frage, wie die Altbauerhaltung finanziert werden soll, blieb unbeantwortet. Denn Halle leidet nicht nur unter einem Bevölkerungsverlust, sondern auch unter niedrigen Einkommen. Beide Entwicklungen sind für Altbauten bedrohlich. Einerseits erfordern viele Altbauten Sanierungskosten von 1000 bis 3000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, die nur durch Quadratmetermieten von über 6 Euro finanzierbar sind. Viele Hallenser können aber nur Mieten von 3 bis 4 Euro bezahlen. Andererseits haben Altbauten mit hohen Betriebskosten zu kämpfen. Gerade in den Gründerzeitvierteln gibt es große Wohnungen mit hohen Räumen und entsprechend hohen Betriebskosten, die für viele Hallenser ebenfalls nicht bezahlbar sind. Wer Altbauten erhalten will, der braucht ein Konzept für die Bewältigung dieser Dilemmata. Geklärt werden müssen sowohl die Finanzierung der Sanierungskosten als auch die langfristige Subventionierung von Mieten und Betriebskosten. Die halleschen Stadtplaner sind solch ein Konzept stets schuldig geblieben.

Die Folgen dieser Versäumnisse sind dramatisch. Viele Gründerzeitviertel, wie das Friesenviertel, das Riebeckviertel oder die nördliche Innenstadt, erlebten in den letzten Jahren einen Leerstandsanstieg auf fast 30 Prozent. Zahlreiche Eigentümer lassen ihre unrentablen Objekte verfallen, Sanierungsgebote der Stadtverwaltung werden regelmäßig ignoriert, immer häufiger kommt es zu Einstürzen. Im September 2007 wurden bei einem Einsturz in der Bernhardystraße zwei Personen verletzt. Zeitweilig hatte die Stadt versucht, Häuser durch Notsicherungen zu retten. Doch diese konnten den Verfall nur verzögern, nicht abwenden. Keinerlei Erfolge brachten auch Versuche, Altbauten durch Abriss in den DDR-Siedlungen zu beleben. Vielen Plattenbaubewohnern fehlte schlicht das Geld und das Interesse für Altbauwohnungen. Jetzt sieht sich die Stadt zu verstärkten Notabrissen gezwungen, um wenigstens die Gefahren für die Passanten abzuwehren. Durch derartige Abrisse sind in den letzten Jahren zahlreiche Baudenkmäler verlorengegangen, wie ein Renaissancehaus in der Rannischen Straße, barocke Bürgerhäuser an der Großen Steinstraße, der Schulstraße und der Mansfelder Straße, ein frühklassizistisches Wohnhaus an der Mauerstraße sowie unzählige Gründerzeithäuser.

Akut gefährdet ist eine Häuserzeile in der Mittelstraße. Der ab 1500 errichtete Komplex wird schon seit Jahren von einem auswärtigen Eigentümer dem Leerstand und Verfall preisgegeben. Mehrfach reichte der "Investor" Abrissanträge ein. Diese Anträge wurden zwar abgelehnt. Doch mittlerweile sind die Fachwerkhäuser dermaßen verfallen, dass der baldige Einsturz droht. Einzig die kommunale Wohnungsgesellschaft HWG sorgt für einige Lichtblicke. Sie konnte in den letzten Jahren Altbauten über Zwangsversteigerungen erwerben und sanieren. Am Stadtgutweg oder am Reilshof wurden ganze Denkmalbereiche, die jahrelang dem Leerstand und Verfall ausgeliefert waren, zu neuem Leben erweckt.

Doch nun droht das nächste Ungemach. Mittlerweile hat Halle dermaßen viele Einwohner verloren, dass auch die Stadtfinanzen völlig kollabiert sind. Im Herbst 2007 hatte die Überschuldung der Stadt ein derartiges Ausmaß erreicht, dass die Zwangsverwaltung der Stadt drohte. Unter dem Eindruck dieser Gefahr beschloss der hallesche Stadtrat einen Sparhaushalt, der Kürzungen von insgesamt 280 Millionen Euro bis 2012 vorsieht. Den Löwenanteil dieser Kürzungen sollen die kommunalen Wohnungsunternehmen tragen. 214 Millionen Euro sollen sie bis 2012 außerplanmäßig an die Stadt abführen.

Für den Denkmalbestand ist dieser Aderlass eine Katastrophe. Geplante Sanierungen mussten bereits gestoppt werden. Ein Fachwerkhaus am Leipziger Tor, dessen Sanierung schon vorbereitet war, wird nun Ruine bleiben. Ein Konzept, wie all diese Probleme bewältigt werden können, gibt es nicht. Zwar wurde im September 2007 ein Integriertes Stadtentwicklungskonzept beschlossen. Doch dieses Konzept setzt nur die alten Rezepte fort, die schon jetzt restlos gescheitert sind. Während in anderen ostdeutschen Städten erste Hoffnungsschimmer zu finden sind, regiert in Halle die tiefste Hoffnungslosigkeit.

Matthias Grünzig