Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 22.10.2007
Neuruppin trotzt dem Verfall - mit Erfolg

Der Nordwesten Brandenburgs ist ein krisengeschüttelter Landstrich. Hier gibt es Städte, die in den letzten Jahren ein Drittel ihrer Bevölkerung verloren haben, verwaiste Dörfer und hohe Arbeitslosenquoten. Völlig anders ist dagegen die Lage in Neuruppin. Die Stadt überrascht nicht nur durch ihre reizvolle Lage am Ruppiner See, sondern auch durch eine erstaunlich positive Entwicklung. Neuruppin konnte in den letzten Jahren einen Anstieg der Bevölkerungszahl von 31.000 auf fast 33.000 Einwohner verzeichnen, der Wohnungsleerstand beträgt lediglich rund 5 Prozent, und die Zahl der Arbeitsplätze ist ebenfalls gestiegen.

Der Erfolg der Stadt hat viele Ursachen. Ein Grund ist die engagierte Wirtschaftspolitik. Die Stadt kümmerte sich um die Ansiedlung von Unternehmen, Gerichten, Hotels, eines Technologiezentrums, einer Fachhochschule für Gesundheitsmanagement und eines großen Krankenhauses mit 2800 Beschäftigten. Eine mindestens ebenso große Rolle für den Erfolg der Stadt spielt der ökologische Stadtumbau, den die Stadt in den letzten Jahren vorangetrieben hat. Viele Energiesparmaßnahmen, die Politiker heute fordern, wie energiesparende Gebäude und die Nutzung regenerativer Energien, sind in Neuruppin bereits Realität. Hier sind viele Gebäude mit Wärmedämmfassaden verkleidet, auf Hausdächern schimmern Photovoltaikanlagen und Sonnenkollektoren. Dank dieser Investitionen kann die Stadt besonders günstige Mieten und Betriebskosten anbieten, die die Attraktivität der Stadt zusätzlich steigern.

Zu den treibenden Kräften des ökologischen Stadtumbaus zählt Walter Tolsdorf. Tolsdorf ist Geschäftsführer der kommunalen Neuruppiner Wohnungsgesellschaft (NWG), die mit fast 4000 Wohnungen der größte Vermieter in Neuruppin ist. Tolsdorf berichtet von den anfänglichen Widrigkeiten, gegen die der Stadtumbau durchgesetzt werden musste. "Am Anfang war der ökologische Stadtumbau ein Wagnis", erzählt er. Damals war das heute so verbreitete Thema Energiesparen noch ein Außenseiterthema. Entsprechend schwierig waren die politischen Rahmenbedingungen. Das Förderprogramm "Stadtumbau Ost" der Bundesregierung belohnte vor allem Wohnungsabrisse durch großzügige Zuschüsse und die Streichung von Schulden. Für die energetische Sanierung von Wohnungen dagegen stand lediglich eine geringe Summe an zinsverbilligten Krediten bereit. Die Botschaft dieser Programme war klar: Erwünscht war nicht die energetische Sanierung, sondern der Abriss von Wohnungen. Vor diesem Hintergrund wurde auch in Neuruppin über den Abriss von Wohnungen diskutiert.

Doch Tolsdorf stellte sich gegen alle Abrissforderungen. Denn er kannte die Qualitäten seines Wohnungsbestandes ganz genau. Schließlich hatte er in den achtziger Jahren im Wohnungsbaukombinat Potsdam gearbeitet und während dieser Zeit auch in Neuruppin Wohngebiete gebaut. Er wusste deshalb, dass gerade die neueren Gebäude aus der DDR-Zeit die besten Voraussetzungen für einen ökologischen Stadtumbau boten. Diese Gebäude standen nicht unter Denkmalschutz und konnten problemlos mit energiesparenden Wärmedämmfassaden und Solaranlagen ausgestattet werden. Zudem zeichneten sie sich durch große Gebäudeabstände aus, die eine gute Besonnung und eine hohe Energieausbeute ermöglichten. Diese Erfahrungen brachten ihn auf eine Idee: Könnte Neuruppin nicht zu einer Modellstadt für einen ökologischen Stadtumbau entwickelt werden?

Unterstützung erhielt Tolsdorf von Arne Krohn, der seit 1993 als Baudezernent von Neuruppin amtiert. Er entwickelte 1998 das Stadtleitbild "Neuruppin 2006", das den ökologischen Umbau der Stadt zum Ziel hatte. Diese Konstellation führte schließlich zu einer mutigen Entscheidung: Die NWG beschloss, auf den Wohnungsabriss zu verzichten und stattdessen Eigenmittel für Investitionen bereit zu stellen. Tolsdorf stellte einen Energiebeauftragten ein, der sämtliche NWG-Wohnungen systematisch auf Energieeinsparpotenziale untersuchte. Gleichzeitig begann eine energetische Gebäudesanierung. Schritt für Schritt wurden die Gebäude mit Wärmedämmfassaden und Wärmeschutzfenstern ausgestattet.

2005 begann die NWG mit der Installation von Photovoltaikanlagen. Diese Aufgabe konnte die Gesellschaft allerdings nicht allein bewältigen. Denn ihr fehlte nicht nur das technische Know How für den Bau von Photovoltaikanlagen, sondern auch ein Abnehmer für den Solarstrom. Deshalb tat sich die NWG mit zwei Partnern zusammen und gründete gemeinsam mit dem Neuruppiner Unternehmen Haustechnik Runge und den Neuruppiner Stadtwerken das Gemeinschaftsunternehmen Sopho GmbH für den Bau und Betrieb von Photovoltaikanlagen. Haustechnik Runge übernahm die technische Planung der Photovoltaikanlage, die NWG stellte ihre Dächer gegen eine Mietgebühr zur Verfügung, und die Stadtwerke sorgten für die Abnahme des Solarstroms. Dank dieser Arbeitsteilung konnte die Sopho GmbH bis jetzt 23 Wohnblöcke mit Solaranlagen ausstatten, die im Jahr rund 620.000 Kilowattstunden Strom produzieren. 2007 folgte der Bau von Sonnenkollektoren für die Warmwasserversorgung, die Energieeinsparungen von bis zu 30 Prozent ermöglichen.

Heute zeigt sich, dass die Entscheidung für den ökologischen Stadtumbau richtig war. Die NWG erhält durch die Vermietung ihrer Dächer zusätzliche Einnahmen und kann ihren Mietern besonders günstige Betriebskosten bieten. Diese Vorteile haben sich mittlerweile auch über Neuruppin hinaus herumgesprochen. Tolsdorf berichtet von einer steigenden Zahl auswärtiger Interessenten, die durch die günstigen Wohnkosten angelockt werden. Auch deshalb kann Neuruppin eine wachsende Zahl an Zuzüglern verzeichnen. Der Leerstand in den neueren Beständen ist mittlerweile auf 4,8 Prozent gesunken. Die günstige Leerstandssituation schlägt sich in der Bilanz des Unternehmens nieder. Im Gegensatz zu vielen anderen ostdeutschen Wohnungsunternehmen erwirtschaftet die NWG Gewinne, mit denen sie zusätzliche Angebote Stadt finanzieren kann. Beispielsweise hat die Gesellschaft zwei Schulen übernommen, deren Unterhaltung die Stadt nicht mehr bezahlen konnte, sie finanziert Sozialprojekte, Kultureinrichtungen und Kindergärten. Nicht zuletzt dieses Engagement ist dafür verantwortlich, dass es in Neuruppin, im Unterschied zu vielen anderen Städten, keine Diskussionen über eine Privatisierung der NWG gibt.

Den ökologischen Stadtumbau will Tolsdorf auch in Zukunft fortsetzen. Das Netz der Photovoltaikanlagen und Sonnenkollektoren soll weiter ausgebaut werden. Zudem arbeitet er an neuen Projekten. Er will die Erdwärme zur Beheizung der Wohnungen nutzen. "Dann brauchen unsere Mieter geringere Heizkosten zahlen", erklärt er. Komplettiert werden soll das Angebot an regenerativen Energien durch zwei Biomethangasanlagen.

Dennoch hat Tolsdorf auch ein Sorgenkind: die Altstadt. Viele Altstadthäuser, die meist in der Zeit um 1800 errichtet worden sind, bieten miserable Energiewerte. Gleichzeitig sind die eigentlich nötigen Energiesparmaßnahmen hier besonders schwer zu realisieren. Denn viele Altstadthäuser stehen unter Denkmalschutz. Die Verkleidung der Häuser mit Wärmedämmfassaden und der Anbau von Solaranlagen ist deshalb nicht möglich. Die Betriebskosten im Altbau sind daher viel höher als in neueren Gebäuden. Entsprechend hoch ist der Leerstand: 16,5 Prozent der NWG-Altbauwohnungen sind verlassen. Dennoch versucht Tolsdorf, auch die Altstadt zu erhalten. "Wir haben schließlich eine Verantwortung für unsere Stadt", erklärt er. Deshalb nutzt die NWG die Gewinne der neueren Bestände, um die kostspieligen Altbauten zu erhalten. Die Rechnung geht auf, weil die NWG über 2732 Wohnungen aus der DDR-Zeit verfügt, mit deren Gewinnen die 988 Altbauwohnungen unterhalten werden können.

Allerdings gelingt der Erhalt der Altbauten nicht in jedem Fall. Besonders unwirtschaftliche Häuser werden selbst in Neuruppin abgerissen. Auch das älteste Haus der Stadt ist ein Problemfall. Das 1689 errichtete Fachwerkhaus in der Schulzenstraße steht schon seit Jahren leer. Die Energiebilanz dieses Gebäudes ist verheerend. Frühere Versuche, das Gebäude an einen privaten Investor zu verkaufen, schlugen fehl. Jetzt würde die Stadt das Haus gern an die NWG übertragen. Doch Tolsdorf ist skeptisch. "Ein dermaßen unwirtschaftliches Haus können wir kaum verkraften", rechnet er vor. Es wird also noch viel Ideenreichtum nötig sein, um auch diese schwierigen Fälle zu retten.

Matthias Grünzig