Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 13.08.2007
Wittenberge hofft auf den Bau der A 14

Wittenberge ist eine bedrückende Stadt. Denn hier, im Nordwesten Brandenburgs, ist der Niedergang allgegenwärtig. Es gibt großstädtisch anmutende Wohnviertel mit reich verzierten Jugendstilhäusern, in denen kaum eine Wohnung vermietet ist, Kaufhäuser, die fast vollständig leer stehen, und imposante Industriebauten, die komplett verwaist sind. Mancherorts breiten sich Brachflächen aus, auf denen nur noch wenig an die abgerissenen Wohnviertel erinnert, dann folgen verbretterte Läden und Ruinen, aus denen dunkle Fensterhöhlen hervorstarren.

"Das ist eine ganz traurige Geschichte", kommentiert Horst Niemeyer die Entwicklung Wittenberges in den letzten Jahren. Der Siebzigjährige, der seit 1961 in Wittenberge lebt und bis 1990 als Bürgermeister amtierte, kann viel über den Niedergang seiner Stadt berichten. Noch vor zwanzig Jahren war Wittenberge eine lebendige Stadt mit über 30.000 Einwohnern. Niemeyer zählt die Unternehmen auf, die der Stadt Wirtschaftskraft und Beschäftigung sicherten: das größte Nähmaschinenwerk Europas "Veritas" mit 3000 Arbeitsplätzen, das Zellwollewerk mit 2600 Beschäftigten, das Reichsbahnausbesserungswerk mit 1800 Mitarbeitern, die Märkischen Ölwerke mit 500 Arbeitsplätzen, das Wohnungsbaukombinat und viele mittelständische Unternehmen. Doch nach 1990 erlebte Wittenberge einen jähen Absturz. Fast alle Unternehmen mussten binnen kürzester Zeit schließen. Lediglich das Bahnbetriebswerk überlebte mit einer reduzierten Belegschaft. Die Folge war ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und eine drastische Abwanderung. Mittlerweile zählt Wittenberge nur noch 19.000 Einwohner.

Doch jetzt gibt es Hoffnung für die Stadt. Denn am 20. Juni dieses Jahres haben Bundesverkehrsminister Tiefensee sowie die Verkehrsminister von Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern die Verlängerung der Autobahn A 14 beschlossen. Geplant ist eine 155 Kilometer lange Trasse von Magdeburg über Stendal und Wittenberge nach Ludwigslust. Dort soll die Autobahn an die bereits vorhandene A 241, die nach Schwerin und Wismar führt, anschließen. Zu den Baukosten von 775 Millionen Euro wird die Bundesregierung 445 Millionen Euro beitragen, der Rest soll durch Mittel der Europäischen Union aufgebracht werden. Im nächsten Jahr ist der Baubeginn geplant, die Eröffnung ist für 2015 vorgesehen. Niemeyer verbindet mit der A 14 große Erwartungen. Er hofft auf prosperierende Gewerbegebiete, auf Unternehmen, die sich in Wittenberge ansiedeln, auf neue Arbeitsplätze. "Autobahnen bringen Wirtschaftswachstum. Und das brauchen wir in Wittenberge dringend", erklärt er.

An der Entscheidung für die A 14 war Niemeyer nicht ganz unbeteiligt. Denn der agile Senior engagiert sich auch heute für seine Region. Er betreibt ein Autohaus, kümmert sich in der Wirtschaftsinitiative Wittenberge um eine wirtschaftsfreundliche Politik und engagiert sich für die Linkspartei in der Kommunalvertretung. Er kämpft um die Ansiedlung von Unternehmen, wirbt mit der zentralen Lage der Stadt an den Bahnlinien Berlin-Hamburg und Magdeburg-Rostock sowie der Elbe. Allerdings stießen seine Bemühungen bisher immer wieder auf ein Handicap. Denn Wittenberge hatte keinen Autobahnanschluss. Zwar gab es früher schon Autobahnpläne, diese wurden von der Bundesregierung aber als nicht vordringlich eingestuft. Doch Niemeyer wollte sich mit diesem Planungsstand nicht abfinden. "Wenn wir die Autobahn wollen, dann müssen wir auch dafür kämpfen", erklärt er. Deshalb gründete er 2001 zusammen mit Gleichgesinnten die "Prignitzer Bürgeraktion Pro A 14" (PRIBA 14). Schon bald zeigte sich, dass die Wittenberger nicht allein waren. Denn die Region zwischen Magdeburg und Schwerin ist eine einzige wirtschaftliche Krisenzone. Hier gibt es Städte wie Stendal, Osterburg, Goldbeck oder Tangerhütte, die unter ganz ähnlichen Problemen wie Wittenberge zu leiden haben. In diesen Städten entstanden ebenfalls Pro-Autobahn-Initiativen. In Ludwigslust gründete sich die BAFA 14, in Osterburg die BASTA 14 und in Stendal ebenfalls eine BASTA 14.

Alle diese Bürgerinitiativen begannen einen gemeinsamen Kampf für die A 14. Sie machten Bundespolitiker auf das Projekt aufmerksam, gewannen Lokalpolitiker für ihr Vorhaben, traten auf Parteitagen auf, veranstalteten Demonstrationen und sammelten über 71.000 Unterschriften für die A 14. Parteipolitische Orientierungen spielten bei diesen Aktionen keine Rolle. Politiker der Linkspartei kooperierten bestens mit CDU-Vertretern und SPD-Bundestagsabgeordneten. Weitere Unterstützung leistete die Straßenbauförderungsorganisation "Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung" (GSV).

2002 geschah schließlich das Wunder: Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder befand sich gerade auf Wahlkampftour in der Region und kündigte zur Überraschung aller Beteiligten den baldigen Baustart der A 14 an. Allerdings brachte das Kanzlerwort noch nicht den Durchbruch. Denn nun folgten langwierige Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den betroffenen Landesregierungen von Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern über die Finanzierung der Autobahn. Doch die Bürgerinitiativen setzten ihre Landesregierungen unter Druck und trugen ihren Teil zur Einigung im Juni bei.

Dennoch ist die A 14 nicht unumstritten. "Die A 14 ist ein gefährlicher Unsinn", erklärt Okka de Wall. Die gebürtige Friesin zog 1998 in die Prignitz und betreibt heute in dem kleinen Dorf Stavenow bei Wittenberge ein Burghotel. Sie will das Autobahnprojekt um jeden Preis verhindern. Sie berichtet von sensiblen Biotopen, wie die Elbaue bei Wittenberge, die durch den Autobahnbau gefährdet würden, von drohendem Lärm und Landschaftszerstörung. Allerdings geht es de Wall nicht nur um den Naturschutz, sondern mindestens ebenso sehr um ein alternatives Entwicklungskonzept für die Prignitz. Denn ihre Vorstellungen von der Zukunft der Region sind grundsätzlich anders als die von Horst Niemeyer. "Wir brauchen in der Prignitz kein Wirtschaftswachstum", fordert sie. "Der Reiz der Prignitz ist doch gerade ihre Unberührtheit." Sie schwärmt von menschenleeren Landschaften, von den Reizen der Einsamkeit, von der Ruhe. Die Abwanderung ist für sie kein Problem, sondern ein Segen. "Die ganze Industrialisierung in der Prignitz war doch nur eine künstliche Entwicklung", erklärt sie. "Die hat keine Zukunft." Stattdessen plädiert sie für die Förderung des sanften Tourismus, für mehr Fahrradwege, für staatliche Lohnkostenzuschüsse für Beschäftigte im Tourismusgewerbe und Landschaftspfleger. "Eine Autobahn würde solch eine Entwicklung nur stören", ist sie sich sicher.

Aus diesem Grund kämpft de Wall schon seit 2002 gegen die A 14. Zusammen mit Mitstreitern hat sie das "Aktionsbündnis gegen die A 14" gegründet. Das Aktionsbündnis hat mittlerweile zahlreiche Unterstützer gefunden. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) fördert die Autobahngegner mit Rechtsexperten. Zudem hat de Wall Hilfe von Bürgerinitiativen aus Niedersachsen erhalten. Denn dort soll, parallel zur A 14, die A 39 gebaut werden. Gegen dieses Projekt haben sich unzählige Bürgerinitiativen gebildet, die sich auch mit den A 14-Gegnern solidarisieren. Weniger Unterstützung erhält sie dagegen von den Einheimischen. "Wir sind hier im Osten", beschreibt sie das Problem. "Die Leute sind hier nicht bereit, für ihre Interessen zu kämpfen. Da wirkt noch die autoritäre DDR-Erziehung nach." Erfolglos blieben auch ihre Versuche, lokale Politiker oder den Tourismusverband für den Kampf gegen die A 14 zu gewinnen. Einzig die Grünen sprechen sich gegen das Autobahnprojekt aus. Doch die erhielten bei den letzten Landtagswahlen in der Prignitz nur 1,5 Prozent. Dennoch gibt Okka de Wall ihren Kampf nicht auf. Sie will gegen die Autobahn in Zukunft vor allem gerichtlich vorgehen. Schon jetzt sammelt sie Geld für die Klagen. "Wir werden gegen jeden Bauabschnitt klagen", gibt sich de Wall kämpferisch.

Horst Niemeyer allerdings kann sich für de Walls Ideen nicht erwärmen. "Wenn die Bürger die unberührte Natur so lieben würden, dann hätten wir in der Prignitz keine Abwanderung, sondern einen Zuzug", erklärt er. Deshalb will er auch in Zukunft für die A 14 kämpfen. "Die Gegner können die Autobahn vielleicht verzögern. Verhindern können sie sie nicht", gibt er sich überzeugt.

Matthias Grünzig