Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 11.06.2007
Leipziger Häuserkämpfe

Alexander Khorrami ist ein erfolgreicher Architekt, der in Berlin und Leipzig Büros betreibt. Besonders verbunden fühlt er sich aber mit Leipzig, wo er seit 2001 wohnt. Vor allem die ausgedehnten Leipziger Gründerzeitviertel haben es ihm angetan. Er schwärmt von reich dekorierten Gründerzeithäusern, von Stuckfassaden, Putten und Erkern. Umso mehr schmerzt ihn der aktuelle Zustand vieler Gründerzeithäuser. Ein großer Teil von ihnen ist zwar saniert. Doch in schwierigen Lagen, wie an lauten Hauptverkehrsstraßen, sind viele Gebäude verlassen. "In Leipzig stehen 14 Prozent aller Wohnungen leer. Da kann sich jeder aussuchen, wo er wohnen will", beschreibt Khorrami das Problem. Die Folgen dieser Wahlfreiheit sind fatal. In den Gründerzeitvierteln beträgt der Leerstand 18 Prozent, und in den letzten Jahren sind viele leer stehende Gründerzeithäuser sogar abgerissen worden.

Doch Khorrami will sich mit dieser Entwicklung nicht abfinden. Er gründete 2004 zusammen mit Gleichgesinnten das "Stadtforum Leipzig", das sich die Erhaltung der Gründerzeitquartiere auf die Fahnen geschrieben hat. Doch wie soll diese Aufgabe gelingen? Khorrami und das Stadtforum sehen vor allem einen Weg, um die Gründerzeitviertel mit neuem Leben zu füllen. "Wir müssen die Stadt von außen nach innen zurückbauen", erklärt er. Denn in Leipzig gibt es nicht nur Gründerzeitviertel, sondern auch Außenbezirke, die zum Teil während der zwanziger und dreißiger Jahre und der DDR-Zeit, zum Teil aber auch erst nach 1990 errichtet worden sind. Diese Viertel will das Stadtforum zu großen Teilen abreißen, um die Gründerzeitviertel zu stärken. Zudem schlägt das Stadtforum weitere Maßnahmen zur Schwächung der Außenbezirke vor. Schulen und Kindergärten sollen aus den Außenbezirken in die Gründerzeitviertel verlagert werden, der Straßenbahnverkehr in den Außenbezirken soll ausgedünnt und der einheitliche Nahverkehrstarif für Leipzig soll abgeschafft werden. Stattdessen will das Stadtforum niedrige Tarife für die Gründerzeitviertel und hohe Tarife für die Außenbezirke durchsetzen. Außerdem fordert das Stadtforum einen Verzicht auf geplante Straßenbahnbeschleunigungsmaßnahmen, von denen vor allem die Bewohner der Außenbezirke profitieren würden.

In den letzten Jahren haben Khorrami und seine Mitstreiter intensiv für ihre Stadtumbaustrategie gekämpft. Sie haben die Medien gegen drohende Abrisse von Gründerzeithäusern mobilisiert, Menschenketten um gefährdete Gebäude und Demonstrationen gegen Abbrüche organisiert. Zudem hat das Stadtforum wichtige Verbündete gefunden. Einer von ihnen ist der Verband der privaten Hauseigentümer "Haus und Grund", der ein handfestes finanzielles Interesse am Erhalt der Gründerzeithäuser hat. Denn diese befinden sich vor allem im Privatbesitz. Die Wohngebäude in den Außenbezirken dagegen gehören meist der kommunalen Wohnungsgesellschaft LWB oder den Wohnungsgenossenschaften. Eine Stärkung der Gründerzeitviertel zu Lasten der Außenbezirke wäre deshalb zugleich auch eine Stärkung der Privateigentümer zu Lasten der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen. Die Immobilientochter der Deutschen Bank wiederum hat dem Stadtforum Geld für eine Broschüre über den Stadtumbau in Leipzig gegeben. "Die besitzen schließlich auch viele Gründerzeithäuser, die sie von bankrotten Schuldnern übernommen haben", erklärt Khorrami das Engagement.

Mittlerweile kann Khorrami erste Erfolge verbuchen. Das Stadtforum hat gute Kontakte zu Leipziger Kommunalpolitikern, wie dem Baubürgermeister Martin zur Nedden aufgebaut, dank derer eine Veränderung der Leipziger Stadtentwicklungspolitik erreicht werden konnte. In den letzten Jahren hat Leipzig in den Außenbezirken über 4000 Wohnungen abgerissen. Gleichzeitig pumpt die Stadt Millionenbeträge in die Gründerzeitviertel, um leer stehende Häuser zu sichern oder um Kindergärten aus den Außenbezirken in die Gründerzeitviertel zu verlagern.

Allerdings sind die Forderungen des Stadtforums nicht unumstritten. Im Gegenteil: In letzter Zeit haben sich Gegenbewegungen herausgebildet, die sich den Abrissen in den Außenbezirken energisch widersetzen. Eine von ihnen vertritt Evelin Müller. Die promovierte Geografin am Leipziger "Institut für Länderkunde" wohnt in Grünau, dem größten Leipziger Außenbezirk. Sie schwärmt von ihrer Wohnung, die einen schönen Blick auf den Kulkwitzer See bietet, von den Bademöglichkeiten, Spazierwegen und Grünflächen, von den ruhigen Straßen, auf denen die Kinder gefahrlos spielen können, von den Ärztehäusern, Einkaufsmöglichkeiten und Verkehrsverbindungen. "Warum soll man all das abreißen?", fragt sie.

Umso mehr kritisiert sie die Abrisspolitik, die von der Stadt und der LWB in Grünau vorangetrieben wird. Sie berichtet von Zuzugssperren, die den Leerstand in die Höhe treiben, von Abrissen, die mit dem künstlich geschaffenen Leerstand gerechtfertigt werden, von Mietern, die gegen ihren Willen aus ihren Wohnungen herausgekündigt werden und dennoch keinen gleichwertigen Wohnraum erhalten. Sie erzählt von Abrissplanungen, die über die Köpfe der Bürger hinweg beschlossen werden, von Mietern, die vom bevorstehenden Abriss ihrer Häuser aus der Zeitung erfahren, und von verzweifelten Bürgern, die schon zum zweiten Mal ihre Wohnungen für den Abriss verlassen sollen. Zudem haben die Abbrüche in manchen Bereichen sogar zu einem Wohnungsmangel geführt. "Viele Bürger haben Schwierigkeiten, Ersatzwohnungen zu finden, weil preiswerte Zweiraumwohnungen mittlerweile Mangelware sind", erklärt Müller.

Im November 2006 entschloss sie sich schließlich zur Gegenwehr. Sie gründete gemeinsam mit anderen Grünauern eine Initiative für einen Abrissstopp in Grünau. Das Echo überstieg Müllers kühnste Erwartungen. Binnen kürzester Zeit fanden sich 3500 Unterstützer der Initiative. Stadträte, Landtagsabgeordnete und Geschäftsführer von Wohnungsgenossenschaften erklärten ihre Solidarität. Mehrere Wohnungsgenossenschaften haben mittlerweile ein klares Bekenntnis zu Grünau abgelegt und mit der Sanierung ihrer Bestände begonnen.

Gegenwind für die Konzepte des Stadtforums gibt es aber auch von Wissenschaftlern. Zu ihnen zählt Tobias Jacobs, der für das Hamburger Forschungsinstitut "Analyse und Konzepte" Wohnungsmarktstudien erstellt. "Stadtentwicklungskonzepte dürfen nicht nur nach der Schönheit fragen, sondern müssen auch die Nachfrage berücksichtigen", beschreibt er seine Herangehensweise. Deshalb hat Jacobs in einer aufwändigen Analyse die zukünftige Entwicklung der Einkommen, der Haushaltsgrößen sowie der Bevölkerungszahl in Leipzig untersucht und diese dann mit dem Leipziger Wohnungsbestand verglichen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind brisant. Nach Jacobs Prognosen ist in Leipzig in den nächsten Jahren mit einer zunehmenden Verarmung zu rechnen. "Vor allem die Zahl der armen Rentnerhaushalte wird anwachsen", erklärt Jacobs. Denn zur Zeit leben in Leipzig noch viele Rentner, die während der DDR-Zeit jahrzehntelang gearbeitet haben und deshalb eine relativ hohe Rente beziehen. Viele zukünftige Rentner dagegen werden nur eine Erwerbsbiografie aus längerer Arbeitslosigkeit, Ein-Euro-Jobs oder Billiglohnjobs vorweisen können und entsprechend niedrige Renten erhalten. Nach Jacobs Berechnungen werden die Rentnereinkommen in Leipzig in den nächsten Jahren um 30 bis 40 Prozent zurückgehen.

Die Leidtragenden dieser Entwicklung werden vor allem die Gründerzeitviertel sein. Denn hier gibt es viele große Wohnungen mit hohen Räumen, die sehr teuer sind. Sie werden immer weniger Mieter finden. Noch schwieriger wird die Lage durch die Tatsache, dass sich große Gründerzeitwohnungen nur sehr schwer zu kleinen Wohnungen umbauen lassen. Viele Wohnungen in den Außenbezirken dagegen, die kleiner und kompakter sind, werden weiterhin auf eine Nachfrage stoßen. Jacobs Fazit ist eindeutig: "Viele Gründerzeithäuser werden niemals wieder Bewohner finden."

Entsprechend kritisch bewertet Jacobs die Leipziger Stadtentwicklungspolitik. Er kritisiert, dass Millionensummen in Gründerzeitviertel gepumpt werden, die keine Zukunft haben. Stattdessen plädiert er für mehr Kreativität im Umgang mit dem Leerstand. "Der Abriss von Gründerzeithäusern bietet auch Chancen", erklärt er. Beispielsweise könnten neue Parks für mehr Lebensqualität sorgen. "Das wird dann natürlich eine andere Stadt sein. Aber sie muss nicht schlechter sein", lautet sein Ausblick.

Matthias Grünzig