Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Deutsches Architektenblatt 2/2007
Leipzig - Einmal Schrumpfung und zurück

Die Leipziger Nachwendezeit begann mit großen Immobilienspekulationen. Keine Stadt in den neuen Bundesländern regte dermaßen die Fantasie der Investoren an wie Leipzig. Die traditionsreiche Stadt, die einst Europas wichtigstes Verlagszentrum und Deutschlands bedeutendste Messestadt war, die über eine vitale Altstadt und große Gründerzeitviertel verfügte, schien für einen Boom prädestiniert zu sein. Experten sagten der Stadt einen glanzvollen Aufstieg als Zentrum der Medien, der Finanzwelt und der "kreativen Branchen" voraus. Manche prophezeiten der damals 545.000 Einwohner zählenden Stadt sogar den Aufstieg zu einer Millionenstadt.

Entsprechend stürmisch entwickelte sich die Bautätigkeit. Angetrieben durch die gerade eingeführten Sonderabschreibungen für die neuen Bundesländer, entfaltete sich in Leipzig eine fast schon fieberhafte Bauaktivität. Schillernde Investoren wie der Königsteiner Bauunternehmer Jürgen Schneider kauften ganze Karrees auf und begannen mit Neubau- und Sanierungsarbeiten. Insgesamt wurden zwischen 1990 und 1998 rund 22.000 Wohnungen gebaut, 1,6 Millionen Quadratmeter Bürofläche errichtet und drei Viertel der 105.000 Gründerzeitwohnungen saniert.

Doch spätestens nach dem Auslaufen der Sonderabschreibungen Ende 1998 zeigte sich, dass sich die euphorischen Prognosen keineswegs erfüllt hatten. Stattdessen musste Leipzig den Zusammenbruch der Industrie und den Verlust von fast 100.000 der 110.000 Industriearbeitsplätze verkraften. Dieser Aderlass konnte auch durch neue Branchen nicht aufgefangen werden. Denn Leipzig stieg nicht zur Medienstadt auf, sondern erreichte unter den deutschen Verlagsstandorten lediglich Platz 21. Die Messe rangierte trotz eines Neubaus nur auf Platz 8 in Deutschland. Folgerichtig erlebte Leipzig einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 20 Prozent und einen Bevölkerungsverlust von 100.000 Einwohnern. Die Konsequenz war ein Wohnungsleerstand von 20 Prozent und ein Büroleerstand, der den deutschlandweiten Rekordwert von fast 30 Prozent erreichte. Die Zukunftsprognosen passten sich der pessimistischen Entwicklung an. Das statistische Landesamt Sachsen prognostizierte für die Zeit bis 2010 gar einen weiteren Bevölkerungsverlust von 50.000 bis 70.000 Einwohnern.

Diese Aussichten lösten ab dem Jahr 2000 eine heftige Debatte über die Zukunft der Stadt aus. Sollte sich die Stadt mit ihrer Schrumpfung abfinden und sich als Modellstadt für Schrumpfungsprozesse zu positionieren? Oder sollte sie versuchen, die Schrumpfung durch eine städtische Wachstumspolitik zu überwinden? Am Ende wurde dieser Konflikt zugunsten einer wachstumsorientierten Politik entschieden. Allerdings setzte Leipzig diesmal nicht auf die ungesteuerte Entfesselung der Marktkräfte, sondern auf eine sorgfältig geplante Stadt- und Wirtschaftsentwicklung.

Die Stadt kümmerte sich um massive Infrastrukturinvestitionen, lenkte Rekordetats in den Straßenbau und förderte Großprojekte, wie den Flughafen Leipzig-Schkeuditz, die Autobahn Leipzig-Chemnitz und den Eisenbahntunnel zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bayerischen Bahnhof. Gleichzeitig bemühte sich die Stadt um eine systematische Reindustrialisierung. Unternehmen wie Porsche, BMW, Quelle und DHL wurden mit teilweise horrenden Subventionen in die Stadt gelockt. Die kommunalen Leipziger Verkehrsbetriebe trugen ebenfalls zum Aufschwung bei. Sie kauften eine alte Werkhalle in Plagwitz und begannen dort 2004 die Produktion des Straßenbahnzuges "Leoliner". Zu alledem wagte sich Leipzig an die allerdings 2004 gescheiterte Bewerbung um die Olympischen Spiele 2012.

Große Aufmerksamkeit wurde dem Stadtumbau in den Gründerzeitvierteln gewidmet. Denn zur Überraschung vieler Stadtplaner stellte sich heraus, dass sich der Wohnungsleerstand vor allem in den scheinbar so attraktiven Gründerzeitvierteln konzentrierte. Unsanierte Gründerzeitwohnungen verzeichneten einen Leerstand von 71 Prozent, und selbst von den sanierten Gründerzeitwohnungen standen 23 Prozent leer. Zudem zeigte sich bei näherer Betrachtung, dass sich unter dem Etikett "Gründerzeitviertel" in der Praxis oft sehr unterschiedliche Qualitäten verbargen. Es gab bürgerliche Gründerzeitviertel, wie die Südvorstadt, Schleussig oder das Waldstraßenviertel, die nicht nur attraktive Wohnungen, sondern auch hervorragende städtebauliche Qualitäten boten. Hier gab es baumbestandene Alleen, grüne Plätze, Parks, Vorgärten und aufgelockerte Bebauungen. In diesen Vierteln waren die Leerstandsprobleme gering. Ganz anders sah die Lage dagegen in den proletarischen Gründerzeitvierteln des Leipziger Ostens und Westens aus. Hier gab es schmale, verlärmte Straßen, dunkle Hinterhäuser, dichte Bebauungen und Grünflächendefizite. Der Leerstand betrug hier oft mehr als 50 Prozent.

Für diese Quartiere wurden völlig neue Konzepte entwickelt, die auf eine bauliche Auflockerung der Stadt setzten. "Weniger Dichte - Mehr Grün" lautete eine Strategie, die vor allem der damalige Baudezernent Engelbert Lütke Daldrup propagierte. Diese Ideen fanden in den "Konzeptionellen Stadtteilplan Leipziger Osten" von 2002 und den "Konzeptionellen Stadtteilplan Leipziger Westen" von 2004 Eingang. An der Wurzner Straße wurden Häuser für neue Grünzüge abgerissen. Auf Brachflächen an der Roßmarktstraße und der Industriestraße im Westen entstanden Einfamilienhäuser mit Gärten, die schnell ihre Käufer fanden.

Aber auch in den Plattenbausiedlungen konnten beispielhafte Stadtumbauprojekte verwirklicht werden. In der Lößniger Hans-Marchwitza-Straße wurden zwei elfgeschossige Wohnblöcke zu Energiesparhäusern mit Solaranlagen und Penthäusern umgebaut. Und an der Volksgartenstraße entstand aus einem leer stehenden Studentenwohnheim eine Wohnanlage mit Eigentumswohnungen, die rasch verkauft werden konnten.

Heute kann eine überwiegend positive Zwischenbilanz der Leipziger Stadtentwicklungspolitik gezogen werden. Die neuen Industrieansiedlungen führten tatsächlich zu einem Zuwachs an Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen. Der Stadtumbau sorgte dafür, dass die Abwanderung in das Umland abebbte. Die Stadt konnte ab 2001 sogar wieder einen Bevölkerungszuwachs verzeichnen und seitdem rund 10.000 Einwohner hinzugewinnen. Der Wohnungsleerstand ging auf 16 Prozent zurück. Auch die Statistiker ließen sich von der positiven Entwicklung beeinflussen. Sie sagten der Stadt nunmehr einen Bevölkerungszuwachs auf 520.000 Einwohner im Jahr 2020 voraus.

Dennoch hat Leipzig auch mit Problemen zu kämpfen. Als größtes Hindernis erweisen sich die zersplitterten Eigentumsverhältnisse. Vor allem die Gründerzeitviertel sind in unzählige Parzellen aufgeteilt, von denen eine einem Münchner Zahnarzt mit Steuersparabsichten, eine weitere einer zerstrittenen Erbengemeinschaft und eine dritte einem Insolvenzverwalter gehören. Viele dieser Hauseigentümer verweigern sich dem Stadtumbau. Die Folgen der Umbaublockaden sind fatal. Denn durch sie werden die Qualitätsunterschiede zwischen den bürgerlichen und proletarischen Vierteln zementiert. Das Resultat ist eine wachsende soziale Spaltung der Stadt. Während im Waldstraßenviertel oder in der Südvorstadt Luxussanierungen die Verdrängung einkommensschwacher Schichten befördern, erleben der Leipziger Osten und Westen eine wachsende Konzentration sozial schwacher Schichten. Ebenso fatal wirken sich die komplizierten Eigentumsverhältnisse auf den Erhalt wertvoller Baudenkmäler aus. Denn viele Eigentümer lassen ihre Immobilien einfach verfallen. Zwar versucht die Stadt, diesem Trend durch ein Gebäudesicherungsprogramm zu begegnen, das gefährdete Gebäude zumindest vor dem Einsturz bewahrt. Dennoch können nicht alle Baudenkmäler gerettet werden. Von den über 15.000 Leipziger Baudenkmälern sind seit 1990 rund 450 der Abrissbirne zum Opfer gefallen.

Trotz dieser Probleme bietet die Leipziger Entwicklung der letzten Jahre ermutigende Erfahrungen. Leipzig hat bewiesen, dass Schrumpfung kein Schicksal ist, sondern durch eine kluge Wirtschafts- und Stadtentwicklungspolitik überwunden werden kann.

Matthias Grünzig