Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 30.01.2006
Das Sewanviertel - Hochburg der Senioren (Berlin)

Das Sewanviertel im Berliner Bezirk Lichtenberg ist ein eher unspektakulärer Stadtteil. Das zwischen 1961 und 1972 erbaute Quartier ist weder ein touristisches Highlight noch ein Schauplatz spektakulärer Kulturevents. Dennoch könnte gerade dieser Stadtteil ein Modell für die Zukunft vieler deutscher Städte sein. Denn hier hat sich eine Entwicklung vollzogen, die Demografen für fast alle Städte Deutschlands vorhersagen: Eine Zunahme der Senioren. Heute sind über 70 Prozent aller Bewohner des Sewanviertels älter als 63 Jahre.

Der erste Eindruck vom Sewanviertel ist ausgesprochen idyllisch. Das ganze Quartier wirkt wie ein großer Park, in den die Wohnblöcke eingestreut sind. Es gibt Wiesen, Blumenbeete, baumbestandene Promenaden und kleine Bachläufe, über denen eine traumhafte Ruhe liegt. Ebenso auffällig ist die Sauberkeit. Auf den Freiflächen liegt kaum Abfall, und auch die in Berlin so verbreiteten Graffiti sind nirgendwo zu finden. Die sehr speziellen Waren- und Dienstleistungsangebote sind ebenfalls nicht zu übersehen. Der Kiez-Service-Laden "Friederike" bietet neben Näh- und Waschdiensten auch Minibustouren für Senioren an, der Friseursalon "Heide" offeriert spezielle Seniorentarife, die Gaststätte "Märkische Aue" lädt zum Tanztee für Senioren ein und die "Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrechten und Menschenwürde" veranstaltet Rentensprechstunden. Eine Vielzahl von Ärztehäusern, Pflegestationen, Seniorenwohnheimen, Bibliotheken und Einkaufsstätten komplettieren das seniorenfreundliche Umfeld.

Hinter diesen Bildern steht eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Frank Sparmann von der Wohnungsgesellschaft HOWOGE, die einen Großteil der Wohnungen im Sewanviertel besitzt, berichtet vom ungewöhnlichen Aufstieg dieses Stadtteils. Am Anfang stand eine mutige Entscheidung: Denn während in den neunziger Jahren viele Stadtplaner über die Zukunftslosigkeit der DDR-Siedlungen diskutierten, entschloss sich die HOWOGE zur Sanierung ihres gesamten Wohnungsbestandes. Und weil schon damals eine Zunahme der Senioren absehbar war, legte die Gesellschaft besonderen Wert auf eine seniorenfreundliche Stadtteilentwicklung. Am Beginn der Sanierungen standen deshalb Mieterbefragungen und spezielle Umfragen zu den Wohnbedürfnissen älterer Bürger, die die HOWOGE seitdem regelmäßig durchführt. Die Ergebnisse der Befragungen waren erstaunlich eindeutig. "Die Senioren wollen Ruhe, Sicherheit und Sauberkeit", fasst Sparmann die wichtigsten Resultate zusammen.

Diese Wünsche werden bei der konkreten Stadtteilentwicklung berücksichtigt. Beispielsweise werden in seniorenfreundliche Wohngebäude keine lauten Problemmieter einquartiert. Wichtig ist zudem die verkehrsberuhigte Gestaltung des Viertels, die noch aus der Entstehungszeit stammt und erhalten wurde. Um die Sauberkeit kümmern sich zahlreiche Hauswarte und Reinigungsdienste, die Graffitis innerhalb von 24 Stunden entfernen. Und zur Erhöhung der Sicherheit wurden in vielen Häusern Conciergedienste und Videoüberwachungsanlagen eingerichtet. Aber auch an andere Dinge, die Senioren wichtig sind, wurde gedacht. Es gibt gepflegte Grünflächen, die zum Spazierengehen einladen, Balkone, die auch weniger mobilen Bürgern einen Platz im Grünen gewähren, und Aufzüge, die das Treppensteigen ersparen. Und zu alledem förderte die HOWOGE auch die Ansiedlung von Seniorenfreizeitstätten und Pflegestationen, die Räume zu besonders günstigen Preisen anmieten konnten.

Heute zeigt sich, dass dieses Konzept aufgegangen ist. Mittlerweile sind sämtliche Wohnungen saniert. Der Wohnungsleerstand liegt im Sewanviertel bei 0 Prozent, für manche Wohnungen werden sogar Wartelisten geführt. Am meisten begeistert ist Sparmann allerdings von seiner Mieterschaft. Er schwärmt nicht nur von dem freundlichen Stadtteilklima und der sensationell guten Zahlungsmoral der Mieter, sondern auch von dem enormen bürgerschaftlichen Engagement, das viele Senioren leisteten. "Viele Bürger identifizieren sich sehr mit ihrem Viertel", erzählt er. "Die achten darauf, dass kein Dreck liegen bleibt. Und sie passen auch auf, wenn sich verdächtige Leute im Viertel aufhalten." Nicht zuletzt dank dieser Wachsamkeit gibt es heute kaum Kriminalität im Sewanviertel. Diese Qualitäten locken wiederum weitere Senioren aus den unterschiedlichsten Vierteln Berlins in den Stadtteil.

Im Sewanviertel ist aber auch zu beobachten, wie der hohe Anteil von Senioren die Politik verändert. Ein besonders spektakulärer Ausdruck dieses Wandels sind die Wahlergebnisse der Linkspartei, die bei der letzten Bundestagswahl im Sewanviertel teilweise 60 Prozent der Stimmen holte. Die Hintergründe dieser Erfolge erklärt Wolfgang Wrazidlo, der seit 1963 im Sewanviertel wohnt und in der Linkspartei aktiv ist. Ein Erfolgsfaktor wäre der bundespolitische Kurs seiner Partei. "Die Menschen haben hier Angst um ihre Rente, ihre Gesundheitsversorgung und die Pflege", erklärt er. Er erwähnt die faktische Kürzung der Renten in diesem Jahr, die Praxisgebühren, die seit vorigem Jahr bei Arztbesuchen zu zahlen sind, die steigenden Zuzahlungen für Medikamente und Krankenhausaufenthalte sowie die jüngst beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer, die die Rentner besonders hart treffen würde. "Die Bürger fühlen sich betrogen", beschreibt er die Stimmung im Viertel. "Viele haben das Gefühl, dass die Reichen geschont und die Rentner zur Kasse gebeten werden." Die Linkspartei würde dagegen von vielen als Anwalt der Rentner, Kranken und Pflegebedürftigen betrachtet.

Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt, der den Erfolg der Linkspartei erklärt. Denn die Linkspartei-Genossen haben im Sewanviertel mittlerweile richtige "Seniorennetzwerke" geknüpft. Vertreter der Linkspartei sitzen im Seniorenverband "Volkssolidarität", in der "Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrechten und Menschenwürde", im Kulturverein Lichtenberg, im Mieterverein, aber auch in den Mieterbeiräten der HOWOGE und in den Vertreterversammlungen der Wohnungsgenossenschaften. Und natürlich unterhalten sie auch enge Kontakte zum Bezirksamt Lichtenberg, in dem die Linkspartei mit absoluter Mehrheit regiert.

Dank dieser Beziehungen kann die Linkspartei etwas bieten, was Senioren besonders schätzen würden: Hilfe bei Alltagsproblemen. Die Linkspartei kümmert sich, wenn die Hausreinigung nicht funktioniert oder wenn verdächtige Autos im Viertel abgestellt werden, sie berät bei Rentenstreitigkeiten, sie sorgt für die Laubbeseitigung auf den Wegen, für die Reparatur defekter Straßenlaternen und für die Verbesserung der Verkehrssicherheit. "Wir sorgen hier für Wohlbefinden", erklärt Wrazidlo.

Der hohe Seniorenanteil prägt nicht zuletzt die Freizeitkultur im Sewanviertel. Eine ehemalige Schule wurde zum Kulturzentrum "Kultschule" umgenutzt, in der Schwimmhalle laden "Seniorenschwimmtage" ein, ein Club der über Neunzigjährigen ist ebenfalls entstanden. Und auch die Kleingartenanlage "Märkische Aue", die am Rande des Sewanviertels liegt, erfreut sich wachsender Beliebtheit. Manfred Weiß, der Vorsitzende des Kleingartenvereins, kann sich vor Nachfragen nach den Kleingärten kaum retten. Mittlerweile muss ein Bewerber mehr als zwei Jahre warten, um eine Parzelle zu ergattern. Für den promovierten Psychologen Weiß ist diese Entwicklung kein Wunder. "Auch die Bürger, die nicht mehr arbeiten gehen, suchen noch Herausforderungen", erklärt er. Die Arbeit im Kleingarten wäre deshalb für viele eine ideale Aufgabe. Zudem verweist er auf den sozialen Aspekt seiner Anlage. "So eine Kleingartenanlage ist wie eine große Familie", erklärt er. "Hier gibt es Hilfe, Kontakte und Geborgenheit." Gerade älteren Bürgern wären diese Werte besonders wichtig.

Nach aktuellen Prognosen wird der Erfolg des Sewanviertels auch in Zukunft weitergehen. Denn nach den Vorhersagen des Berliner Statistischen Landesamtes wird die Zahl der über 65jährigen Berliner bis 2020 um 27,8 Prozent zunehmen. Dann könnte das Beispiel Sewanviertel vielleicht auch in anderen Teilen Berlins Schule machen.

Matthias Grünzig