Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Deutsche Bauzeitung db 8/2010
Stadtdenkmal mit ungewisser Zukunft (Görlitz)

Seit rund zehn Jahren wird verstärkt über das Phänomen der Stadtschrumpfung diskutiert. Zahlreiche ostdeutsche und immer mehr westdeutsche Städte verzeichnen sinkende Bevölkerungszahlen. Viele Stadtplaner und Baupolitiker verbinden mit dieser Entwicklung Hoffnungen auf neue Qualitäten. Die Wirklichkeit allerdings sieht vielerorts anders aus. Ein Beispiel ist die ostsächsische Stadt Görlitz, die wegen ihrer wertvollen Altstadt und ihrer Gründerzeitviertel als eine der schönsten Städte Deutschlands gilt. Görlitz ist schon seit Jahren in einem Teufelskreis aus Wirtschaftskrise, Bevölkerungsschwund und Leerstand gefangen. Die Stadtverwaltung hat in den letzten Jahren viel versucht, um die wertvolle Bausubstanz auch unter Schrumpfungsbedingungen zu nutzen. Doch in jüngster Zeit zeigt sich immer deutlicher, dass diese Bemühungen gescheitert sind.

Wie konnte es zu diesem Desaster kommen? Ihren Anfang nahm die Krise bereits nach der deutschen Einheit 1990, als Görlitz den Zusammenbruch großer Teile der Wirtschaft und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf Spitzenwerte von fast 30 Prozent verkraften musste. Einen zusätzlichen Schub erfuhr die Krise durch die Raumordnungspolitik des Bundesbauministeriums, die 2006 in den "Leitbildern und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland" ihren Ausdruck fand. Nach diesem Leitbild sollten Investitionen und Fördergelder auf ausgewählte "Metropolregionen" konzentriert werden. Städte wie Görlitz, die abseits dieser "Metropolregionen" lagen, sollten dagegen möglichst ohne Unterstützung auskommen.

Diese Förderstrategie machte die städtischen Bemühungen um eine Verbesserung der Wirtschaftsstruktur immer wieder zunichte. Beispielsweise kämpfte die Stadtverwaltung jahrelang für einen Ausbau der miserablen Bahn- und Straßenverbindungen, die nicht selten zur Absage von Investoren führten. Doch in der Praxis wurden die Bahnverbindungen sogar noch verschlechtert: Die Interregioverbindung Berlin - Görlitz wurde ebenso gestrichen wie der Interregio Dresden - Görlitz - Breslau. Ähnlich erging es dem "European Logistics Center". Dieses Projekt, das den Umbau eines ehemaligen Verschiebebahnhofes zu einem Logistikzentrum mit einem Umschlagterminal für den kombinierten Verkehr und Gewerbeflächen für logistiknahe Branchen vorsah, scheiterte an fehlenden Fördergeldern. Auch die Straßenverbindung "Südwestumfahrung", die für die Industrieansiedlung von großer Bedeutung wäre, konnte aufgrund fehlender Gelder nicht verwirklicht werden. Folgerichtig fanden nur wenige Investoren den Weg nach Görlitz.

Die Folgen waren fatal. Einerseits erlebte Görlitz eine Schrumpfung von von 78000 Einwohnern im Jahr 1988 auf derzeit 55000 Einwohner. Andererseits musste die Stadt eine Verarmung verkraften. Mit einem durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen von rund 1300 Euro zählt Görlitz bis heute zu den ärmsten Städten Deutschlands.

Beide Trends hatten gravierende Auswirkungen auf die Bausubstanz der Stadt. In den Gründerzeitvierteln gab es beispielsweise viele großbürgerliche Wohnungen mit Wohnflächen von über 100 Quadratmetern, Deckenhöhen von 4,50 Metern und Stuckfassaden, die kaum mit Wärmedämmfassaden verkleidet werden konnten. Diese Wohnungen erforderten enorme Betriebskosten, die sich viele Görlitzer nicht leisten konnten. Die Folge war ein Wohnungsleerstand von 30 bis 40 Prozent in den Altbauquartieren, der katastrophale Konsequenzen für die Hausbesitzer hatte. Viele von ihnen hatten ihre Häuser erst nach 1990 saniert und mussten nun Insolvenz anmelden. Andere überließen ihre Gebäude dem Leerstand und Verfall. Selbst Häuser, die erst in den 1990er Jahren aufwändig saniert worden waren, wurden aufgrund geborstener Wasserleitungen und anderer Schäden unbewohnbar. Einige besonders verzweifelte Hauseigentümer versuchten sogar, ihre unrentablen Gebäude an die städtische Wohnungsbaugesellschaft Görlitz (WBG) zu verschenken.

Aber nicht nur Wohnhäuser waren von der Krise betroffen. Auch die prächtige Stadthalle, die zwischen 1906 und 1910 von Bernhard Sehring erbaut worden war, musste Ende 2004 ihren Betrieb einstellen, weil die Stadt die Betriebskosten nicht mehr finanzieren konnte. Görlitz entwickelte sich zunehmend zum Potemkinschen Dorf mit schönen Fassaden, hinter denen sich der Leerstand ausbreitete.

Die Stadtverwaltung hat mit viel Fantasie versucht, die wertvolle Bausubstanz trotz der Schrumpfung zu erhalten. Und doch glichen diese Bemühungen eher dem Wettlauf zwischen Hase und Igel: Was auch immer die Stadtverwaltung versuchte - die Schrumpfung war schneller. Beispielsweise wurde versucht, die Stadt "von außen nach innen" zurückzubauen und die Altbauquartiere durch den Abriss von Wohngebieten aus der DDR-Zeit zu stärken. 2001 verabschiedete der Stadtrat ein Integriertes Stadtentwicklungskonzept, das den Abriss von 8000 DDR-Wohnungen bis 2009 und einen Umzug der betroffenen Mieter in die Altbauquartiere vorsah. Die Stadtverwaltung tat viel, um dieses Konzept durchzusetzen. Sie beschloss im Dezember 2005 eine Stadtumbausatzung, die Modernisierungsmaßnahmen in den Abrissgebieten verbot, sie schickte den Bewohnern der DDR-Siedlungen Anfang 2007 Postkarten, die zum Umzug in die Altbauquartiere aufriefen, sie veranstaltete jedes Jahr einen "Tag der offenen Sanierungstür", an denen Altbauwohnungen besichtigt werden konnten. Doch genutzt hat es nichts. Die betroffenen Mieter waren partout nicht zum Umzug in die Altbauquartiere zu bewegen, und die Wohnungsunternehmen verweigerten den Abriss der preiswerten DDR-Wohnungen, die in der einkommensschwachen Stadt besonders gefragt waren. Am Ende konnten nicht 8000 Wohnungen, sondern nur 1500 Wohnungen abgerissen werden, und diese befanden sich auch nicht vorwiegend in DDR-Siedlungen, sondern selbst in denkmalgeschützten Gründerzeithäusern und in Wohnblöcken aus der Zeit um 1930.

Nach dem Scheitern der Umsiedlungsbemühungen wurde versucht, die leeren Altbauwohnungen durch Zuzügler füllen. Die Görlitzer Stadtverwaltung richtete 2004 eine Stabsstelle ein, die um gut betuchte Senioren aus den alten Bundesländern werben sollte. Flankiert wurden die Anwerbebemühungen durch die Aktion "Probewohnen", die Anfang 2008 gestartet wurde. Zu diesem Zweck stellte die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Görlitz (WBG) zwei Probewohnungen zur Verfügung, die jeweils zwei Wochen kostenlos bewohnt werden konnten. Einige Senioren zogen daraufhin tatsächlich nach Görlitz. Doch der Bevölkerungsrückgang konnte durch diese Aktion allenfalls gebremst werden.

Ähnlich ambivalent verliefen Bestrebungen, leere Gebäude durch unkonventionelle Nutzungen zu füllen. Ein Gebäudekarree der WBG am Obermarkt, das aus Gebäuden der Barock- und Renaissancezeit besteht, wurde 2004 zu einem symbolischen Preis an den Betreiber eines "Weihnachtshauses" vermietet, in dem das ganze Jahr über eine riesige Auswahl an Weihnachtsartikeln angeboten wird. Eine durchgreifende Belebung der Altbauquartiere konnte durch diese Strategie jedoch nicht erreicht werden, da eine unbegrenzte Rettung von defizitären Altbauten die WBG schnell in die Insolvenz getrieben hätte.

Schwierigkeiten traten auch bei der Wiederbelebung der Stadthalle auf. Zunächst wurde versucht, die Halle an einen privaten Investor zu verkaufen. Eine 2007 durchgeführte europaweite Ausschreibung brachte allerdings ein ernüchterndes Ergebnis: Nur ein Investor war bereit, ein derartig großes Gebäude in einer schrumpfenden Stadt zu betreiben. Zudem verlangte der Investor auch noch einen städtischen Zuschuss, den die finanziell klamme Stadt nicht aufbringen konnte. Nach langen Querelen beschloss die Stadt im Januar 2010, die Stadthalle in eigener Regie zu sanieren. Allerdings musste eine dermaßen große Investition vom Landkreis Görlitz genehmigt werden. Der Landkreis wiederum hegte Zweifel an der Görlitzer Finanzkraft. Denn eine schrumpfende Stadt hat auch mit tendenziell sinkenden Steuereinnahmen und Finanzzuweisungen zu kämpfen. Folgerichtig konnte die Sanierung bis jetzt nicht begonnen werden.

Die Stadtverwaltung startete noch viele andere Bemühungen. Sie subventionierte private Hauseigentümer mit üppigen Fördergeldern, verhinderte Einkaufscenter am Stadtrand, stellte umfangreiche Hilfen für die Innenstadthändler bereit, warb um Zuzügler aus dem nahen Polen. Und doch brachten all die Anstrengungen immer wieder ein Ergebnis: Die Stadt schrumpfte weiter.

Zudem wurde die Stadtverwaltung mit neuen Hiobsbotschaften konfrontiert. Im April 2009 beschloss der Görlitzer Kreistag, das bis dahin selbständige Görlitzer Theater aus Kostengründen in den Oberlausitzer Theaterverbund Bautzen einzugliedern. Im August 2009 musste das Warenhaus, das für den Innenstadthandel von überragender Bedeutung war, schließen. Seitdem ist der prächtige Jugendstilbau, der 1913 von Carl Schmanns errichtet wurde, dem Leerstand überlassen. Die Stadtverwaltung bemüht sich zwar um einen neuen Betreiber. Doch in einer Stadt, in der die Einwohnerzahlen und die Kaufkraft im Sinkflug begriffen sind, scheuen die Betreiber das Risiko einer Warenhauseröffnung.

Wie sehen die Perspektiven für Görlitz aus? Klar ist derzeit nur, dass sich das Leitbild der "schrumpfenden Stadt" in Görlitz nachhaltig diskreditiert hat. Die Stadtverwaltung hofft deshalb weiterhin auf Investitionen, die die Stadt wieder auf Wachstumskurs bringen könnten. Die aktuellen Spardebatten lassen allerdings wenig Raum für derartige Hoffnungen.

Matthias Grünzig